Jedes Land hat seine klassische Literatur. Griechenland hat die Odyssee, England die Werke Shakespeares – und in Wales haben wir unser Mabinogion.

Die Anthologie aus dem 19. Jahrhundert umfasst elf uralte walisische Folkloregeschichten, die über Generationen von cyfarwydd (Erzähler*innen) mündlich überliefert wurden, bevor sie ihren Weg in zwei mittelalterliche walisische Manuskripte fanden – das Weiße Buch von Rhydderch (1350) und das Rote Buch von Hergest (1382–1410). Damit gehören sie zu den ältesten erhaltenen Prosatexten Britanniens.

Die fantastischen Erzählungen, in denen Drachen, Monster, Ritter und eine mörderische Jungfrau aus Blumen vorkommen, sind fest in der walisischen Kultur verankert und verzaubern das Publikum bis heute – sowohl in ihrer ursprünglichen Form als auch in modernen Adaptionen.

Wie Professorin Sioned Davies, ehemalige Leiterin der School of Welsh an der Cardiff University, es ausdrückt: „Die Geschichten im Mabinogion sind nicht nur deshalb bedeutend, weil sie so alt sind, sondern weil sie zeitlos sind – sie faszinieren moderne Leser*innen ebenso sehr wie das mittelalterliche Publikum.“

Eine Illustration eines Mädchens mit Blumen im Haar und einer Eule auf ihrer Schulter.
Eine Illustration des riesigen Königs Bran, der im Meer steht, umgeben von Schiffen zu seinen Füßen.
Von links nach rechts: Bloduwedd (die aus Blumen geschaffene Frau) und Brân der Gesegnete (ein Riese und König)

Was bedeutet der Begriff „Mabinogion“?

Als Titel für eine Sammlung altweltlicher Erzählungen klingt „Das Mabinogion“ passend mystisch. Doch in Wahrheit ist der Begriff Mabinogion ein Schreibfehler, der vermutlich durch eine falsche Pluralbildung des walisischen Wortes mabinogi entstanden ist, das wohl so viel wie „Kindergeschichte“ oder einfach „Erzählung“ bedeutete.

Als die elf Geschichten im 19. Jahrhundert erstmals von der versierten Linguistin Lady Charlotte Guest aus dem Walisischen ins Englische übertragen wurden, entschied sich Guest dafür, diesen Begriff als Titel ihrer neuen Anthologie zu verwenden – ein Name, der sich bis heute gehalten hat. Sie war auch die Erste, die die elf Erzählungen zu einer Sammlung zusammenfasste, nachdem sie zuvor über die Seiten der mittelalterlichen Manuskripte – dem Weißen Buch von Rhydderch und dem Roten Buch von Hergest – verstreut waren.

Doch nicht nur dieser grammatikalische Fehler macht den Titel der Sammlung irreführend.

„Der Begriff Mabinogion ist eher ein Irrtum, ein Missverständnis“, sagt Professorin Davies, die 2007 ihre eigene englische Übersetzung des Textes veröffentlichte. „Er suggeriert, dass all diese Geschichten eng miteinander verwandt und vielleicht vom selben Autor aus derselben Zeit stammen – doch das stimmt nicht.“

Also, wer hat das Mabinogion geschrieben?

Die Wahrheit ist: Wir wissen es nicht genau. Die Geschichten wurden mit ziemlicher Sicherheit mündlich überliefert und dabei wahrscheinlich von umherziehenden walisischen cyfarwydd (Erzähler*innen) verändert und ausgeschmückt, bevor sie schließlich standardisiert und niedergeschrieben wurden.

Daher sind sich die meisten Wissenschaftler einig, dass die Geschichten von mehreren Autor*innen stammen und in unterschiedlichen Epochen verfasst wurden. Einige vertreten jedoch die Auffassung, dass ein Teil der Erzählungen von einem einzigen Schreiber stammt – vielleicht ein einsamer Mönch in einem Kloster in Nordwales oder gar eine sagenhafte walisische Prinzessin.

Im Gegensatz zu den mittelalterlichen Dichtern, die ihre Werke oft mit ihrem Namen signierten, enthalten diese Geschichten keinen Hinweis auf ihre Herkunft – was bedeutet, dass derdie Verfasserin wohl für immer ein faszinierendes Rätsel bleiben wird.

Eine Illustration, die König Arthur und zwei Ritter zeigt, die neben einem runden Tisch stehen.
Der legendäre König Artus mit seinen Rittern und ihrer Tafelrunde

Worum gehen die Geschichten des Mabinogion?

Als einige der frühesten niedergeschriebenen Prosatexte in walisischer Sprache gewähren die elf Geschichten des Mabinogion einen Einblick in die Vorstellungen und Themen, die das mittelalterliche Publikum bewegten.

Für heutige Leser*innen ist die Fantasie darin unvergleichlich – mit Handlungselementen wie zwei verräterischen Neffen, die in ein Paar Zuchtschweine verwandelt werden, oder einer Königin, die wegen Kannibalismus verurteilt wird und zur Strafe Menschen auf ihrem Rücken tragen muss. Doch es gibt auch bekannte mittelalterliche Motive, darunter mehrere Geschichten mit dem legendären König Artus und seinen berühmten Rittern.

Unter der Oberfläche offenbart der Text auch die kollektiven Ängste und Einstellungen der mittelalterlichen Bevölkerung von Wales – besonders im Hinblick auf die allgegenwärtige Bedrohung durch Eroberung und Kolonisierung.

Innerhalb der Sammlung sind vier Geschichten, bekannt als die Vier Zweige des Mabinogi, durch eine verknüpfte Handlung und wiederkehrende Figuren miteinander verbunden. Diese Verbindung wird durch ein narratives Stilmittel betont: Am Ende jeder Geschichte steht eine Variation des Satzes: „Und so endet dieser Zweig des Mabinogi.“

Jede dieser vier Erzählungen dreht sich um einen mythischen walisischen Herrscher, der sich mit familiären Konflikten, grenzüberschreitenden Kriegen, persönlichen Fehden und gelegentlich magischen Flüchen auseinandersetzen muss, um sein Reich zu schützen und seine Dynastie zu sichern.

Die übrigen sieben Geschichten sind nicht miteinander verbunden. Drei davon gelten als klassische Ritterromanzen, in denen ein Ritter aus König Artus’ Gefolge Heldentaten vollbringt, um die Liebe einer Dame zu gewinnen. Zwei sind Pseudo-Geschichten mit historischem Anklang – darin tritt ein angeblicher König von Britannien gegen seltsame Plagen an, und ein römischer Kaiser reist nach Wales, um eine Jungfrau zu treffen, die ihm im Traum erschienen ist.

Die letzten beiden Geschichten drehen sich ebenfalls um König Artus, diesmal aber steht er selbst im Mittelpunkt. In der einen grübelt er über einen bevorstehenden Krieg gegen die Sachsen, in der anderen hilft er einem walisischen Prinzen dabei, eine Reihe gewaltiger Aufgaben zu erfüllen, um die Hand einer Riesin zu gewinnen, die er heiraten will (weil – warum auch nicht). Letztere Geschichte gilt als die erste schriftliche Erzählung in irgendeiner Sprache, in der Artus selbst die Hauptfigur ist.

Warum sind die Geschichten des Mabinogion so wichtig?

Die Geschichten des Mabinogion sind von großer Bedeutung – nicht nur wegen ihres historischen Wertes als seltene frühmittelalterliche Texte, sondern auch, weil sie tief in der walisischen Kultur und Identität verwurzelt sind. Die Erzählung von Lludd und Llefelys etwa enthält Y Ddraig Goch, den Roten Drachen, ein Motiv, das die walisische Flagge ziert und zu einem der bekanntesten Symbole des Landes geworden ist. Andere Geschichten und Figuren tauchen auf subtilere und überraschende Weise immer wieder auf.

„Eine der Geschichten ist heute mit dem walisischen Fußball verbunden“, sagt Professorin Davies. „Die Liedzeilen des Songs Yma o Hyd, den die walisischen Fans singen, beziehen sich tatsächlich auf die Geschichte Der Traum des Kaisers Maxen, in der Maxen nach Rom zurückkehrt und die Waliser auf sich allein gestellt zurücklässt. Das Mabinogion ist also auch in diesem sehr beliebten Fußballlied präsent.“

 

Yma o Hyd – Dafydd Iwan und die Rote Mauer

Die Geschichten des Mabinogion haben auch einen weiten Einfluss auf die Literaturwelt ausgeübt. Es lassen sich Parallelen ziehen zwischen den mystischen, alten Erzählungen und moderneren Fantasy-Romanen – darunter die Werke von J.R.R. Tolkien und J.K. Rowling.

Inzwischen wurden die Geschichten in zahlreiche Sprachen übersetzt, darunter Arabisch, Französisch und Ungarisch, und sie tauchen immer wieder in neuen Adaptionen auf – etwa als Animationsfilm, Graphic Novel oder in der Oper The Sacrifice von 2007. Es gab sogar eine Live-Musical-Version.

Kommen im Mabinogion echte Orte vor?

Zahlreiche reale Orte tauchen in den wundersamen Seiten des Mabinogion auf. In den drei Ritterromanzen etwa hält König Artus laut Text seine Hofhaltung in Caerleon, einer tatsächlich existierenden, gut erhaltenen römischen Festung am Stadtrand von Newport. In der Geschichte Der Traum des Kaisers Maxen wiederum findet der Kaiser die geheimnisvolle Frau aus seinem Traum in Caernarfon – einem weiteren Ort mit römischen Verbindungen, der heute für das UNESCO-geschützte Caernarfon Castle bekannt ist.

Weitere genannte Orte im Text sind die Küstenstadt Harlech, die Insel Grassholm, heute ein geschütztes Vogelreservat, sowie die walisische Hauptstadt Cardiff mit ihrer emblematischen Burg. Tatsächlich werden im Text über das ganze Land hinweg Orte erwähnt – so sehr, dass es mittlerweile sogar eine beliebte „Mabinogion-Karte“ gibt, erstellt von Margaret Jones.

Doch laut Professorin Davies könnten einst noch viel mehr Geschichten aus weiteren Teilen von Wales existiert haben.

„Ich denke gern, dass die wenigen [mittelalterlichen] Manuskripte, die wir heute besitzen, nur die Spitze des Eisbergs sind – und dass es vielleicht nicht nur vier Zweige [des Mabinogi] gab, sondern zehn, zwölf oder zwanzig“, sagt Professorin Davies.

Heißt das, dass alle zusätzlichen Geschichten für immer verloren sind?

„Man weiß nie“, sagt Professorin Davies. „Ein Kollege von mir hat eine Version eines walisischen Manuskripts in einer Bibliothek in den USA gefunden. Man weiß also nie. Vielleicht gibt es noch mehr Geschichten zu entdecken.“

Eine Illustration einer Frau mit langen roten Haaren (Rhiannon), die ein weisses Pferd reitet.
Rhiannon – eine Figur aus dem Mabinogion, deren Geschichte bis heute fasziniert

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